Erfolg allein, so scheint es, zählt nicht mehr, Unternehmen müssen heute auch Werte haben – und predigen. Doch sind Wettbewerb und Moral überhaupt miteinander vereinbar?
Sie stehen in Geschäftsberichten, Imagebroschüren und Ethik-Kodizes, Manager beschwören sie gern in ihren Reden – in der Wirtschaft spricht man heute lieber von Werten als von Zahlen. Das wärmt die Herzen, das vermittelt Sinn: Kaum ein Unternehmen, das sich nicht zu »Verantwortung«, »Fairness« oder »Nachhaltigkeit« bekennt.
Angesichts von Korruptionsaffären und Millionenabfindungen kann man fragen, wo da die Glaubwürdigkeit bleibt – und was all das Werte-Geschwätz in der Wirtschaft überhaupt soll. Wie passen Werte und Wirtschaft zusammen? Stehen ethische Werte nicht in einem Spannungsverhältnis, gar im Widerspruch zu ökonomischem Verhalten?
Aus klassisch marktwirtschaftlicher Sicht stört die Moral das Geschäft. Der Grund liegt in der Logik des Wettbewerbs: Moralisches Verhalten kann zu einer Kostenerhöhung führen, die von weniger moralischen Konkurrenten ausgenützt werden kann; es liegt daher nicht im Interesse von rationalen wirtschaftlichen Akteuren. Moral und Marktwirtschaft, Werte und Profit scheinen also unvereinbar zu sein. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Milton Friedman (1912–2006) meinte sogar einmal, Unternehmen hätten überhaupt keine andere Verantwortung, als die, im Dienste ihrer Anteilseigner ihre Gewinne zu maximieren.
Die Moralverächter in der Wirtschaft berufen sich dabei gern auf Adam Smith (1723-1790). Der schottische Ökonom und Moralphilosoph hielt das ökonomische Eigeninteresse für am besten geeignet, das Gemeinwohl zu fördern. In seinem Hauptwerk
»Der Wohlstand der Nationen« schrieb er: »Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.«
Doch Eigeninteresse heißt nicht rücksichtsloser Egoismus. In einer Marktwirtschaft kann nur derjenige erfolgreich sein, der die Bedürfnisse anderer befriedigt. Auch wirtschaftliche Akteure müssen daran interessiert sein, dass andere gut über sie denken. Wenn wir den Bäcker für einen Gauner halten, werden wir unsere Brötchen in Zukunft womöglich woanders kaufen. Der Bäcker hat also einen Anreiz, auf seine Reputation zu achten, weil er sonst Nachteile erleidet. Zwar gebe es edlere Motive für moralisches Verhalten, meinte Smith in seiner »Theorie der ethischen Gefühle«, aber immerhin könne der Geschäftsgeist helfen, den Bestand der Gesellschaft zu sichern. Zwischen Smith´ Ökonomie und seiner Moralphilosophie besteht also kein Widerspruch. Allerdings sah natürlich auch Smith, dass wirtschaftliche Akteure sich nicht immer moralisch vorhalten.
Marktwirtschaftlich betrachtet gibt es zwei Ansätze, um Wettbewerb und Moral miteinander zu vereinbaren. Eine Strategie besteht darin, unmoralisches Handeln zu bestrafen, etwa durch rechtliche Sanktionen, und damit so teuer zu machen, dass es sich für die Akteure nicht mehr lohnt. Die Alternative ist, moralisches Handeln zu belohnen, so dass die Akteure dadurch Wettbewerbsvorteile erzielen. Beide Strategien setzten letztlich auf das Eigeninteresse der Akteure. Der Münchner Wirtschaftsethiker Karl Homann vertritt sogar die These, dass ethisches Handeln unter Wettbewerbsbedingungen bestimmter Anreize bedarf, dass es also im Eigeninteresse der Akteure liegen muss, diese Regeln zu befolgen.
Denn nur dann werden sich die Akteure freiwillig an diese Regeln binden. Wer also etwa Fairness und Integrität sicherstellen will, muss eben dafür sorgen, dass es sich für die Akteure auch auszahlt, sich fair und integer zu verhalten. Das theoretische Konstrukt des »homo oeconomicus« hat für Homann eine normative Funktion, weil es »hilft, Moral im Alltag der Marktwirtschaft möglich, lebbar, implementierbar zu machen.« Er plädiert daher dafür, die »Ressource« Moral in ein komplexes Anreizsystem einzugliedern, das das marktwirtschaftlich geprägte Verhalten des einzelnen Akteurs zum Wohle aller zu steuern verspricht.
Die Ethik sagt uns, wie wir leben sollen. Sie bietet uns Handlungsorientierung in Form von Normen, Prinzipien oder eben Werten. In vielen Alltagssituationen müssen wir jedoch Kompromisse machen. Wir unterliegen Sachzwängen, wir müssen Erwartungen erfüllen – und oft müssen wir mit Menschen interagieren, von denen wir nicht wissen, ob sie uns nicht schaden wollen. Erst recht gilt das im wirtschaftlichen Kontext.
Aus ökonomischer Sicht lässt sich wirtschaftliches Handeln als eine Art Spiel auffassen, in dem sich Akteure mit verschiedenen Handlungsmöglichkeiten gegenüberstehen. Erfolgreiche Zusammenarbeit erfordert, dass die Akteure ihre Handlungen aufeinander abstimmen. Nach dem Konzept des US-Ökonomen Thomas Schelling braucht es dazu »Orientierungspunkte«, an denen jeder Akteur sein Handeln ausrichten kann, weil er annimmt, dass der andere es auch tut. Aus dieser Sicht hat die Moral die Funktion, die Kooperation zwischen Akteuren zu stützen, indem sie wechselseitige Verlässlichkeit garantiert.
Werte haben eine Orientierungsfunktion, indem sie gemeinsame Maßstäbe für Handlungen schaffen, meint der Unternehmensethiker Andreas Suchanek, einer von Homanns Schülern: »Wenn man weiß, was anderen wichtig ist, hilft das sehr, gemeinsame Interessen zu verfolgen.« In der Sprache der Ökonomen ausgedrückt, heißt das: Werte können helfen, Transaktionskosten zu senken. Wenn sich Akteure in ihrem Wertesystem etwa an Fairness orientieren, braucht man keine Kontrollmaßnahmen, weil man eben darauf vertrauen kann, dass sich der andere nicht unfair verhalten wird. So betrachtet sind Werte also Teil einer wirtschaftlichen Vorteilskalkulation – und damit bloß Mittel zum Zweck. Aber entspricht das unserer Vorstellung von ethischen Handeln?
Die Wirtschaftsethiker meinen, Ethik und ethische Werte müssten auf der Basis von Spieltheorie und Utilitarismus an die Realität des wettbewerbsorientierten Unternehmens angepasst werden, um eine wie auch immer verstandene gesellschaftlich »Moral« zu erhalten. Wer so argumentiert, geht allerdings davon aus, dass die Unternehmenswelt von egoistisch, zweckrationalistisch, materialistisch gesinntem Handeln bestimmt wird, sondern dass in ihr jegliche Art von Lebensethik, die auf den Wert des Lebensganzen zielt, zugunsten des Nutz-Werts, des Geld-Werts, ausgeschlossen wird. Tatsächlich aber zeigen Experimente der Verhaltensökonomie, dass sich Akteure nicht immer notwendig egoistisch verhalten, sondern auch freigiebig und fair. Natürlich wird ein Unternehmen – als wirtschaftlicher Akteur nach außen und als Arbeitgeber – von bestimmten Rahmenbedingungen in seinem Handeln beschränkt. Wenn die Gewinne ausbleiben, muss man eben Kosten reduzieren, wenn man wirtschaftlich überleben will. Die Menschen, die in einem Unternehmen agieren, sind aber nicht ausschließlich vom ökonomischen System determiniert.
Auch der St. Gallener Wirtschaftsethiker Peter Ulrich will Marktwirtschaft und Moral integrieren. Im Unterschied zu Homann meint er allerdings, die ökonomische Rationalität allein könne keine Ethik begründen. Zwar bestünden in der Wirtschaft Sachzwänge, doch diese beruhen auf unseren Einkommens- und Gewinninteressen. »Der Markt allein zwingt uns zu gar nichts«, schreibt Ulrich. Es ist folglich nicht unmöglich, unter wirtschaftlichen Bedingungen moralisch zu handeln. Die Frage ist nach Ulrich vielmehr, wie weit man wirtschaftlichen Akteuren eine »Selbstbegrenzung« ihres Vorteilsstrebens zumuten kann.
Ulrichs Konzept einer »integrativen Wirtschaftsethik« zielt im Kern darauf ab, normative Bedingungen wirtschaftlichen Handelns im Sinne einer »lebensdienlichen« Ökonomie zu bestimmen. Im Mittelpunkt seines Konzepts steht der »Wirtschaftsbürger«, der Geschäftssinn und Bürgersinn verbindet, also Wirtschaftssubjekt und moralischer Akteur zugleich ist. Unternehmen müssen ihr Vorteilsstreben demnach nicht bloß gegenüber den »shareholdern« rechtfertigen, sondern auch gegenüber den »stakeholdern«, also all jenen Gruppen, die gegenüber dem Unternehmen legitime Ansprüche haben. Und das kann eben bedeuten, dass Unternehmen gefordert sind, ihr Gewinnstreben zu begrenzen, um ihre Rolle als »gute Bürger« wahrzunehmen.
Unternehmen sind keine wertfreien, amoralischen Systeme, die bloß einer anonymen Sachlogik folgen. Abstraktionen wie »Markt« oder »Wettbewerb« verschleiern, dass es Spielräume für verantwortungsvolles Handeln gibt. Im Falle des Volkswagen-Skandals war es eben nicht einfach der »Neoliberalismus«, der die Motorsoftware manipuliert hat. Es waren konkrete Menschen in einer Organisation.
Die Wirtschaft habe eben nicht nur »marktsensibel«, sondern auch »moralsensibel« zu sein, schreibt der Ökonom und Philosoph Birger Priddat von der Universität Witten-Herdecke. Die ethische Debatte überschätze die Geltung von Moral, während Ökonomen wie Manager sie unterschätzten. Man müsse die Wirtschaftsethik als »konstruktive Störung der Systeme« begreifen, meint Priddat:
»Moral leistet die Achtsamkeit, dass Menschen nicht vergessen, sich als Menschen zu begegnen. Aber sie leistet deswegen allein keine bessere Gesellschaft oder Wirtschaft.«
Für das Unternehmen besteht das Motiv für ethisches Handeln darin, die Reputation und damit den Gewinn zu sichern. Der Mensch im Unternehmen hat noch einen anderen Grund, sich integer, verantwortlich, fair zu verhalten: den Wert des guten, im Ganzen gelungenen Lebens – wenigstens aufgrund der Erkenntnis, dass »gut zu sein auch das ist, was gut für mich ist« (Ernst Tugendhat)
In der Wirtschaft gehe es nicht nur um Profite, sondern genauso um »Integrität«, meint der amerikanische Philosoph Robert C. Solomon. Ethik in der Wirtschaft ist daher nicht nur möglich, sondern sogar notwendig. Nach Solomon brauchen wir dazu das Konzept der Tugend. Seit Aristoteles versteht man darunter eine charakterliche Disposition, die uns zu ethisch gutem Handeln befähigt. Es sind unsere Tugenden (und Laster), die uns zu der Person machen, die wir sind. Aber Tugenden sind nicht einfach nur persönliche Charaktereigenschaften; sie setzen Werte voraus, für Solomon sind sie »in die Tat umgesetzte Werte«.
Tugenden entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern entwickeln sich im jeweiligen Umfeld, in der Kultur, in der man sich bewegt. Eine Tugend wie Loyalität wird sich eher in einem Umfeld entfalten, in dem Loyalität geschätzt wird; »Vertrauen« braucht eine vertrauensvolle Atmosphäre, und »Leidenschaft» kann nur dort entstehen, wo es auch spannende Herausforderungen gibt. Nach Solomon bestehen Unternehmen nicht nur aus Menschen und Produkten, sondern letztlich aus einer »Kultur gemeinsamer Werte«. Diese Werte zeigen sich in Traditionen, in Regeln und Ritualen, aber eben auch im alltäglichen Handeln von Managern und Mitarbeitern.
Ethische Werte in Unternehmen wie Vertrauen und Zuverlässigkeit und ökonomische Werte wie Reputation, Imagegewinn, Kundenbindung oder Leistung, die dem ökonomischen Erfolg dienen, verhalten sich nicht nur nicht konflikthaft zueinander, sie stützen sich sogar gegenseitig. Vorausgesetzt, diese Werte werden auch tatsächlich gelebt.
Dies wird möglich, wenn man Markt und Mensch, Unternehmen und Mitarbeiter, CEO und Führungskraft nicht als diametrale Gegensätze konstruiert, sondern als Dialog- oder Konfliktpartner ansieht, die ihre jeweiligen Werte – im besten konstruktiven Sinne des Wortes – aneinander »abarbeiten«. Dazu braucht es (Compliance-)Regeln, Verhaltensstandards und Routinen. Und es braucht eine funktionierende »Praxis« im Sinne des schottischen Philosophen Alisdair MacIntyre, die sich an solchen Standards orientiert. Das Wesen einer Praxis besteht nach MacIntyre dabei darin, dass sie nicht bloß äußere Güter wie Erfolg oder Profit hervorbringt, sondern auch »innere Güter», die unsere Tugenden systematisch fördern. Eine bestimmte Praxis im Umgang mit Mitarbeitern könnte etwa Tugenden wie Respekt und Solidarität stärken – und damit zugleich die entsprechenden Werte im Unternehmen.
Nötig ist eine gewisse Selbstverständlichkeit, ethische Werte und die Möglichkeiten ihrer Umsetzung in einem endlosen, mitunter schmerzhaften Prozess des Experimentierens immer wieder neu auszuhandeln und einzuüben. Solange, bis es für jeden einzelnen zum Habitus wird, Vertrauen, Verantwortung und Konfliktfähigkeit in immer anderen Situationen immer neu unter Beweis zu stellen.
Es braucht den geteilten geografischen Raum, das Unternehmen als Labor für den Umgang mit Werten, um Werte zu leben und auszuhandeln – einen Raum, der ein »Wir« stiftet. Der (Innen-)Raum des Unternehmens darf nicht von Angst und Zeitdruck beherrscht werden, da sonst jede innere Freiheit und Kreativität im Keim erstickt werden; denn wo keine Freiheit ist, wie in Konzernen, in denen Mitarbeiter um der Unternehmensleistung permanent evaluiert werden, da sind ethische Werte weder lernbar noch lebbar. Dort kann es auch keine Vorbilder geben, nach denen man sich (in kritischen Entscheidungssituationen) richten könnte.
Die (objektive) Bedeutung ethischer Werte im Unternehmenskontext kann sich nur im sozialen Raum entfalten. Wo es keine Menschen und Menschlichkeit gibt; wo Mitarbeiter von Algorithmen ersetzt werden oder durch ein restriktives Evaluations-System »algorithmisiert«, »maschiniert« werden; wo Entscheidungen nur noch durch Computer getroffen werden, da ist es unmöglich, ethische Werte zum Leben zu erwecken.
Ethische Werte sind lebbar – auch und gerade im modernen Unternehmenskontext. Dann nämlich, wenn man es wagt, die Bedeutung der zu einseitig konzipierten ökonomisch ausgerichteten Handlungsethik von der Warte einer Lebensethik aus zu relativieren. Was für das kalkulatorische Denken Anreize, Vorteile und Nachteile sind, ist für den ethischen Geist das gute Leben. Dieses Leben besteht nicht aus Teilbereichen, die man zu Optimierungszwecken voneinander separieren könnte – Modul Job, Modul Freizeit. Es ist ein Ganzes, in dem alle Teile auf komplexe Weise miteinander verwoben sind: der wirtschaftliche – und der ethische Erfolg.
Dr. Rebekka Reinhard promovierte über amerikanische und französische Gegenwartsphilosophie („summa cum laude“). Seit 2007 ist sie als Führungskräfte-Coach sowie als Key Note Speaker für Unternehmen unterwegs. Sie ist Redakteurin der Philosophie-Zeitschrift HOHE LUFT und Spiegel-Bestseller-Autorin.
Thomas Vašek ist Gründungschefredakteur der Philosophiezeitschrift »Hohe Luft« und Autor einer Reihe von Büchern. Er studierte Volkswirtschaft und Mathematik und arbeitete als Journalist, unter anderem war er Chefredakteur von »MIT Technology Review« und »P.M.-Magazin« sowie Ressortleiter beim österreichischen Nachrichtenmagazin »profil«.