Bei mir im Büro hängt ein Plakat, auf dem steht: „Es war nicht alles schlecht im Kapitalismus“. Wohl wahr. Noch vor einem halben Jahrhundert starb jedes fünfte Kind vor seinem fünften Geburtstag. Heute liegt die Kindersterblichkeit bei 4,3 Prozent, allein in den letzten dreißig Jahren hat sie sich mehr als halbiert. Ein wesentlicher Grund dafür ist der Rückgang der Armut: Vor 200 Jahren lebten 84 Prozent aller Menschen in extremer Armut, heute sind es weniger als 10 Prozent, genau 736 Millionen. Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt überall auf der Welt, die Geburtenraten sinken. Noch nie ging es so vielen Menschen so gut wie heute, noch nie lebten so viele Menschen so sicher und lange wie in der Gegenwart.
Es gibt dabei nur ein kleines Problem: Das alles verdankt sich einer Wirtschaftsform, die deshalb so einzigartig erfolgreich sein konnte, weil sich keiner Gedanken darüber gemacht hat, dass ihre Erfolgsgrundlage nicht unbegrenzt ist. Im 18. und 19. Jahrhundert war die Welt zu groß und zu leer, als dass man darüber hätte besorgt sein müssen, auch im 20. war anfangs Welt noch reichlich da, aber je besser das Leben für immer mehr wurde, desto größer wurde natürlich auch der Weltverbrauch. Unser Problem: Noch nie ging es den Menschen so gut, noch nie aber der Natur so schlecht. Also: Nichts, was mehr Weltverbrauch bedeutet, passt noch in dieses Jahrhundert.
Das zivilisatorische Projekt der Moderne muss weitergedacht werden: Eine zweite Aufklärung muss den Zukunftshorizont eines neuen Naturverhältnisses entwickeln, einen natural aufgeklärten Kapitalismus. Dafür braucht es positive Zukunftsbilder, Utopien des Erreichbaren. Dann nur aus guten Aussichten kann man verloren gegangene Zukunft zurückgewinnen, kann Träumen folgen, andere Gesellschaften, eine andere Welt bauen. Und warum auch nicht? Dass das gegenwärtig stattfindende Großexperiment des ungebremsten Wachstums scheitern wird, ist doch klar – im Moment konsumiert die Wachstumswirtschaft ihre eigenen Voraussetzungen, und das geht nicht lange gut. Warum dann nicht seine Fantasie und seine Kraft in ein gemeinsames Projekt investieren, das den großen Vorteil hat, dass sein Scheitern keine ausgemachte Sache ist, und sein Erfolg möglich. Das Projekt „Alles könnte anders sein!“ ist realistisch, die Fortsetzung der besinnungslosen, fantasiefreien, zukunftsvergessenen Praxis der Gegenwart illusionistisch.
Dass in der Menschheitsgeschichte radikale Überlebensprobleme vorkommen, ist ja nichts Neues, man denke an die Pest, Hungersnöte mit Millionen von Opfern, Kriege, die kleine Eiszeit im 16. und 17. Jahrhundert. Warum sollte man ausgerechnet auf dem technologischen und zivilisatorischen Stand des 21. Jahrhunderts paralysiert und ängstlich auf die Zukunft starren, so, als sei die Gegenwart derart großartig, dass Zukunft bitte unbedingt zu vermeiden ist? Ganz im Gegenteil: Es ist wieder Zeit für Zukunftshorizonte und Utopien. Die brauchen wir, um das Mögliche zu tun, das Leben besser zu machen, auch wenn die Welt niemals perfekt sein wird, sondern bleibend ausgestattet mit Problemen, Unfällen, ja, auch mit Katastrophen. Das ist eben das Leben. Zeit für einen neuen Realismus.
Prof. Dr. Harald Welzer ist Soziologe und Sozialpsychologe, Mitbegründer und Direktor von „Futur Zwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit“. Er leitet das Norbert-Elias-Center for Transformation Design an der Europa Universität Flensburg, lehrt dort Transformationsdesign und als ständiger Gastprofessor Sozialpsychologie an der Universität Sankt Gallen. Er hat zahlreiche Bücher zu gesellschaftspolitischen Fragen und zur Nachhaltigkeit geschrieben, unter anderem „Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird“, „Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand“; „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“, zuletzt „Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. 2019 hat er den „Rat für Digitale Ökologie“ gegründet. Daneben ist er Herausgeber von „Futurzwei. Magazin für Zukunft und Politik.“ Die Bücher von Harald Welzer sind in 22 Sprachen erschienen.