Zurzeit setzt die Digitalisierung die Fantasie in Bewegung wie kaum ein anderes Feld im technischen Fortschritt. Künstliche Intelligenz, intelligente Küchengeräte, autonome Roboter, selbstfahrende Autos, die digitale Aufrüstung des menschlichen Gehirns oder digital ermöglichte Unsterblichkeit des menschlichen Geistes sind Beispiele, die es teils schon gibt und die teils bislang nur als Vision bestehen. Manche Futuristen gehen weiter: Über das Internet oder seine Nachfolger sollen sich irgendwann die Gehirne dieser Welt zu einer globalen Superintelligenz zusammenschließen und dann den Kosmos besiedeln. Dabei ist die Grenze zwischen haltloser Spekulation und realistischen Erwartungen oft nur schwer zu finden.
Obwohl all das ein Werk der Menschen ist, wird ihre Rolle in der Zukunft immer undeutlicher und fragwürdiger. Die aktuellen Debatten zur Digitalisierung und Robotik, zur Arbeitswelt der Zukunft und Industrie 4.0 erzählen von Hoffnungen, aber auch von Sorgen über mögliche zukünftige Verhältnisse von Mensch und Maschine oder von Mensch und Algorithmus. Die Werbung für Roboter als „künstliche Gefährten“ ist voll von Erwartungen an Roboter, die man bisher eher auf entweder gute Freunde oder dienstbare Geister projiziert hat. Hinzu kommen allerlei praktische Vorteile aus Arbeitgebersicht in der Industrie 4.0. Roboter und Algorithmen haben kein Recht auf Urlaub. Sie müssen höchstens zur Wartung oder in die Werkstatt zum Software-Klempner. Roboter werden nicht schwanger und gehen nicht in Mutterschutz. Sie werden nicht krank, sondern gehen höchstens mal kaputt. Kosten für Kranken- und Sozialversicherung sowie Altersvorsorge fallen nicht an.
Menschen kommen oft schlecht weg in den Erzählungen der Digitaloptimisten, und ganz falsch liegen diese oft nicht. In den häufig genannten Beispielen von Lehrern, Richtern und Politikern werden den menschlichen Vertretern dieser Berufe meist negative Attribute wie unkonzentriert und launenhaft, subjektiv und egoistisch, aggressiv und inkonsequent zugeschrieben, vielleicht sogar bestechlich. Über Algorithmen und Roboter hingegen wird im Lichte technischer Perfektion gesprochen. Sie seien objektiv, allwissend und gerecht, unbestechlich ihrem Auftrag verpflichtet, nimmermüde und immer dienstbereit, ohne Eigeninteressen und Befindlichkeiten. Menschen seien in der Vergangenheit verhaftet. Jahrhundertelange Feindschaften prägen Nachbarschaften, etwa von Serben und Kosovaren oder Sunniten und Schiiten. Algorithmen hingegen gehören weder Stamm, Religion noch einem Clan an und sind unbelastet von alten Geschichten. Meist werden technische Systeme, vor allem Roboter, wie bessere bzw. sogar ideale Menschen beschrieben.
Entsprechend begleiten die Digitalisierung auch Untergangserzählungen zur Zukunft des Menschen. Das Ende des Menschen sei absehbar – er sei zunehmend seinen eigenen digitalen Geschöpfen unterlegen, ob nun auf dem Arbeitsmarkt, in der Liebe oder in der Politik. Schon seit über 25 Jahren ist der Computer besser als ‚unser‘ Schachweltmeister, und im Jahre 2017 ist auch der König aller Brettspiele, das japanische Go, der Übermacht eines Algorithmus erlegen. Obwohl die digitale Technik von Menschen gemacht wird und sich nicht selbst herstellen kann, jedenfalls noch nicht, ist sie häufig viel besser als ihre Schöpfer. Digitalvisionäre und insbesondere die so genannten „Transhumanisten“, sehen die Mission der Menschheit angesichts der von ihnen diagnostizierten unüberwindbaren Defizite des Menschen genau darin, sich durch technischen Fortschritt überflüssig zu machen und in Zukunft der digitalen Technik die Evolution zu überlassen.
Freilich sind das bloß Geschichten über die Zukunft. Da gibt es viele unterschiedliche und einander widersprechende Geschichten. So gibt es die Geschichte von der Zukunft, in der uns die Algorithmen und Roboter die Arbeit stehlen und am Ende die Menschheit unterwerfen. Und gleichzeitig gibt es die Geschichte von der Zukunft, in der die Roboter uns das Leben angenehmer machen und den Menschen brav zu Diensten sind. Aber was stimmt denn nun?
Die Antwort ist: das werden wir sehen, und das wird von uns abhängen. Es ist eine falsche, wenngleich verbreitete Ansicht, dass sich die Zukunft so erforschen ließe wie eine neue Chemikalie im Labor. Denn die Zukunft gibt es noch gar nicht, anders als eben die Chemikalie. Man kann die Zukunft weder mit einem Fernrohr noch mit dem Mikroskop beobachten. Es gibt keine Daten aus der Zukunft. Zukunft ist immer nur das, was sich konkrete Menschen in ihrer jeweils konkreten Gegenwart über die Zukunft ausdenken. Da wir keine Daten aus der Zukunft haben, sind selbst wissenschaftlichen Studien keine Tatsachenberichte aus der Zukunft, sondern mit Vorsicht zu genießen.
Oft kommen die Zukunftsgeschichten der Digitalisierung im Gewand weitreichender Visionen daher. Sie wurden und werden von den Gurus im Silicon Valley in messianischer Pose verkündet – früher von Steve Jobs, heute von Marc Zuckerberg oder Elon Musk. In den Medien finden diese Geschichten meist begeisterte Abnehmer. Die Visionäre des digitalen Zeitalters werden wie Apostel der Zukunft zelebriert. Jedoch haben auch sie keinen privilegierten Zugang zur Zukunft: sie waren noch nie dort. Sie haben allerdings viel Macht, die Zukunft zu gestalten, ob nun über technische Geräte, Geschäftsmodelle oder aber auch über die Zukunftserzählungen, die sie verbreiten.
In der Tat erliegen viele dieser Macht. Gegenwärtig wird von Managern und Politikern, aber auch in vielen Medienberichten der Eindruck erweckt, dass die Digitalisierung wie ein Zug mit hoher Geschwindigkeit fährt, den man weder aufhalten noch in seiner Richtung beeinflussen könnte. In Abwandlung eines bekannten Spruches von Erich Honecker: Die Digitalisierung in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Der Digitalisierung wird der Charakter eines Naturereignisses zugeschrieben, gegen das man nichts machen könne – außer sich anzupassen: wir müssen uns fit machen für die Digitalisierung, so der beliebte Spruch.
Nun muss digitale Technik aber irgendwie gemacht werden, sie wächst ja nicht von selbst. Jede einzelne Zeile eines Programmcodes wird von Menschen geschrieben. Software läuft auf Hardware, die ebenfalls nicht von selbst wächst. Die Software der Suchmaschinen, die Algorithmen der Big-Data-Technologien und die Social Media, sie alle sind von Menschen entworfen und umgesetzt, und zwar nach Werten und Interessen, meist nach den Interessen von Firmen. Manche gestalten die Digitalisierung, indem sie Einfluss auf die Algorithmen nehmen können, und andere müssen sich den Algorithmen dann anpassen. Wer die Digitalisierung als Naturgewalt wie einen Tsunami ansieht und sich bloß anpasst, fragt nicht mehr nach den Menschen und ihrer Macht hinter der Digitalisierung.
Aber es ist eben kein Naturgesetz, dass Technologien, von denen unsere Zukunft abhängen kann, von privaten Unternehmen hinter hohen Mauern entwickelt werden müssen. Viele Unternehmen haben längst erkannt, dass dieses traditionelle Modell oft gar nicht gut für die eigenen Produkte ist. Sie haben sich gesellschaftlichen Dialogen geöffnet und beziehen Nutzer oder auch die Nachbarn ihrer Standorte stärker ein. Davon ist jedoch bei den großen Konzernen aus dem Silicon Valley bislang kaum die Rede. Immerhin gibt es erste Anzeichen, dass auch dort das Bewusstsein wächst, dass größere Offenheit gegenüber Gesellschaft und Politik erforderlich ist. Ein starker Druck der Nutzer weltweit würde diesen zaghaften Lernprozessen sicher mehr Schwung verschaffen. Da gibt es noch erheblichen Spielraum nach oben.
Insgesamt geht es darum, dem verbreiteten Fatalismus etwas entgegenzusetzen. Wir müssen uns keineswegs einfach passiv an das anpassen, was große Digitalfirmen entschieden haben. Dem Determinismus ist zu widersprechen. Stattdessen sollten wir das Denken in Alternativen entwickeln: alternative Möglichkeiten abwägen statt alternativloser Anpassung hinterher zu laufen. Dann wird Gestaltung möglich, sicher nicht in allen Bereichen und zu jedem Produkt, aber wenigstens in denen, die unsere Zukunft maßgeblich mitprägen. Gestaltung ist der Ort des Menschen. Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Wir Menschen sind und bleiben analoge Wesen. Das Wohnen beispielsweise mag durch noch so viele digitale Hilfsmittel unterstützt werden. Es bleibt aber ein analoges Wohnen der und für die Menschen. Sie sind es, die sich darin wohlfühlen wollen und sollen. Digitalisierung bleibt Mittel zum Zweck, und über die Zwecke entscheiden die Menschen. Die Zukunft des Wohnens scheint mir eine gute Gelegenheit, dies zu praktizieren.
Quellennachweis: A. Grunwald: Der unterlegene Mensch. Zur Zukunft der Menschheit angesichts von Algorithmen, Robotern und Künstlicher Intelligenz. München: RIVA Verlag, 2019
Armin Grunwald
Prof. Dr. rer. nat. Armin Grunwald, ist seit 1999 Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Seit 2002 zudem Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB). Und seit 2007 auch Professor für Technikethik und Technikphilosophie am KIT. Nach dem Studium der Physik, Mathematik und Philosophie folgten verschiedene Berufstätigkeiten in der Industrie (Software Engineering, 1987-1991), im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (1991-1995) und als stellvertretender Direktor der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen (1996-1999). Seit 2009 ist Grunwald Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und seit 2014 Mitglied im Präsidium von acatech. Zudem war er Mitglied des Science Committee des Future Earth International Programms der Nachhaltigkeitsforschung 2013-2016. Mitglied der Endlagerkommission des Deutschen Bundestages 2014-2016 und Mitglied in der Ethik-Kommission für autonomes und vernetztes Fahren des Bundesverkehrsministeriums 2016/2017.