Wer hat sie literarisch oder geistig die letzten Jahre intensiv begleitet? Gibt es Personen, die für Sie eine Vorbildfunktion besitzen?
Mein größtes Vorbild war und ist immer mein Vater, der mich intellektuell und moralisch stark geprägt hat. Allgemein neige ich nicht so sehr dazu, mir Vorbilder zu suchen, auch wenn es immer wieder Menschen gibt, die mich anregen und auf neue Gedanken bringen, sei es durch die Lektüre ihrer Bücher oder durch persönlichen Austausch.
Wer bin ich und wenn ja wie viele ist eins ihrer bekanntesten Bücher in der breiten Masse. Kann ich durch die stete Veränderung und Einflüsse von außen in meinem Leben immer wissen wer ich bin?
Der Frankfurter Philosoph Martin Seel hat mal gesagt „Mit sich im Reinen sind nur die Dummen“. Da ist durchaus etwas dran. Reflektierte Menschen stellen sich immer wieder in einen neuen Horizont, vor dem sie sich als sie selbst erkennen und ausdeuten. Identität – das zeitliche Sichdurchhalten als ein und derselbe – bedeutet nicht, sich immer genau gleich zu sehen. Es bedeutet sich immer wieder neu zu betrachten als der, für den man sich hält.
Eine der größten Veränderungen in diesem Jahr ist wohl der Einzug von Corona. Wie denken Sie, hat und wird sich die Arbeitswelt durch Covid 19 verändern? Was sind für Sie positive und negative Aspekte hierbei?
Positiv ist vor allem die Co2-Bilanz. Video-Konferenzen, weniger Flüge und Kreuzfahrten schonen unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Bemerkenswert ist auch, dass die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland sich solidarisch zeigt und als Staatsbürger ihre Pflicht im Dienst der Schwachen tun. Die Kinds- und Trotzköpfe sind nur eine (auffällige) Minderheit. Die entscheidende Frage wird sein, ob wir einen großen Sprung in Richtung nachhaltiges Wirtschaften tun werden, oder ob wir nach Corona zum Alten zurückkehren. Diese frage ist noch nicht ausgemacht.
Wie sieht für Sie eine wünschenswerte Zukunft im digitalen Zeitalter aus?
Wünschenswert ist eine Zukunft in der der viel zitierte Satz: „Im Mittelpunkt muss der Mensch stehen“ tatsächlich zutrifft. Das digitale Zeitalter muss human gestaltet werden, nicht transhumanistisch oder posthumanistisch wie manche IT-Gurus es sich erträumen. Wichtig ist zudem, dass die Digitalisierung und die große Transformation zur Nachhaltigkeit Hand in Hand gehen, was derzeit leider nicht der Fall ist. Noch verbrauchen wir immer mehr Ressourcen und immer mehr Energie statt immer weniger – was durch die Digitalisierung prinzipiell möglich wäre.
Was (oder wie) muss der Mensch (sich) selbst dazu verändern? Und inwiefern sind die Unternehmen/Organisationen in der Pflicht hierfür die richtigen Weichen zu stellen?
Dass „der“ Mensch sich verändern soll, hören Philosophen nicht so gerne. Denn wer ist schon „der“ Mensch? Jeder Jeck ist anders, sagt der Kölner, und „der“ Mensch existiert nicht. Deshalb ist es tatsächlich an Politikern und führenden Wirtschaftslenkern die entscheidenden Schritte einzuleiten, um die Digitalisierung ethisch und human zu gestalten und auch um das künftige Überleben der Menschheit im Zeitalter der drohenden Klimakatastrophe zu sichern. Dass das im globalen Wettbewerb nicht einfach ist, ist klar. Aber wir sind dazu verdammt, es zu schaffen.
Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg sowie Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seine Bücher wie „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“, „Liebe – ein unordentliches Gefühl“ und „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ sind internationale Bestseller und wurden in insgesamt mehr als 40 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien u.a. „Jäger, Hirten, Kritiker. In seinem aktuellen Buch „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“ beschäftigt er sich mit den wichtigsten Fragen rund um das Thema Künstliche Intelligenz und bezieht dabei auch die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen durch die aktuelle Krise mit ein. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung „Precht“ im ZDF.